Corona beendet unseren Ritt
Loncopue, Provinz Neuquen, Argentinien 24.03.2020
Ich stehe unter der Dusche und genieße den warmen Wasserschwall, der auf mich niederprasselt. Warmes Wasser! Das ist die erste Dusche seit unserer Abreise in San Luis vor zweieinhalb Monaten. Dazwischen waren die eiskalten Lagunas und Arrojos, die Bergbäche mein Badezimmer. Eine braune Brühe sucht sich in der weißen Badewanne den Weg zum Abfluss. Ich spüle die Spuren der Wildnis nach 1300 Kilometern aus meinem Haar und vom Körper. Ich bin bereit, wieder in die Zivilisation einzutauchen. Das war nicht geplant, nicht schon jetzt. Doch ich bin sehr froh, dass uns heute die Geborgenheit eines Hauses, ein warmes Essen und offene, liebe Menschen empfangen haben.
Auf dem Weg zur Laguna La Leche
Die letzten beiden Tage waren anders. Anders als alle 720 Tage, die wir in den Anden unterwegs gewesen sind. Fünfzig Reitkilometer auf der staubigen Piste stecken uns und unseren drei Pferden heute in den Knochen. Die Hälfte ist unser normales Tagespensum. Doch seit vorgestern ist alles anders. Am Nachmittag kommen auf einer Estancia in den Bergen an. Dort wollen wir die Nacht verbringen, bevor wir weiter nach Caviahue reiten. Vier erschrockene Augenpaare sind auf uns gerichtet. „Wisst ihr nicht, was los ist? Der Virus. Es herrscht Ausgangssperre und Kontaktverbot. Es sterben jeden Tag viele Menschen weltweit. Woher kommt ihr, welcher Nation gehört ihr an, wie lange seid ihr schon in Argentinien? Mit jeder Fragen wird die Mauer aus Skepsis zwischen uns und den sonst so offenen Herzen der Argentinier größer. „Haltet Abstand!“ Das war keine Bitte. „Hier könnt ihr nicht bleiben. Verlasst bitte das Gelände. Fünf Kilometern weiter ist ein Puesto, sie nehmen euch bestimmt auf.“ Betroffen blicken wir uns an. Diese Angst und Ablehnung vor dem Virus erschreckt uns. Nein, wir sind nicht ahnungslos. Auch bei den Gauchos in den Bergen wurde über den Virus gesprochen. Ein Radiosender speziell für die Pobladores, das sind die Gauchos, die in den Sommermonaten mit den Tieren in den Bergen leben, trägt das Weltgeschehen in den letzten Zipfel der Anden. In einer Gendarmerie konnten wir die Angst anheizende Berichterstattung sogar im Fernsehen verfolgen. Doch alle waren entspannt, kommentierten und reichten den Mate mit Bombilla, dem metallenen Trinkhalm, weiter. In den dünn besiedelten Bergen ist der Virus nur ein mediales Ereignis. Und auch wir fühlen uns sicher.
Gaucho Nino freut sich über unseren Besuch
Am nächsten Puesto werden wir in der Abenddämmerung mit einer ablehnenden Handgeste auf Abstand gehalten und weiter nach Caviahue, dem nächsten Ort geschickt. Erst nach der Bitte und dem Hinweis, dass wir für die bevorstehende Nacht Futter und Wasser für die Pferde brauchen, dürfen wir in einer entfernteren Koppel übernachten. Wir beschließen, uns die kommenden Tag ins 70 Kilometer entfernte Loncopue durchzuschlagen. Dort liegen die Winterweiden für die Tiere und wir erhoffen uns einen Platz mit gutem Futter für die Pferde, während wir die Lage erkunden. Ich liege lange wach und schlafe schlecht. Angst und Ablehnung der Menschen zu spüren, ist für mich eine völlig neue Erfahrung. Eine, die das Unterwegssein mit Pferden unmöglich macht.
Ein verlassenes Puesto bietet, was wir brauchen: Gras, Wasser und sogar Isolation
In der Morgendämmerung bauen wir unser Lager ab und ziehen entlang der staubigen Piste ostwärts. Wenige Autos kommen uns entgegen. Für eine Ausgangssperre ist doch reger Betrieb wundere ich mich und deute, dass hier weitab von Orten die Regelung doch eher leger gehandhabt wird. Wir halten ein Auto an, um weitere Informationen zu bekommen. Ein Polizist im Zivilwagen ermutigt uns, unseren Weg fortzusetzen. Kein Wort von Ausgangssperre und Virus. Keine halbe Stunde später werden wir von der Gendarmerie gestoppt. Die üblichen Fragen des Woher-Wohin, Passkontrolle. Sie klären uns über die Ausgangssperre auf. Der Jüngere erkennt uns: Ihr seid doch die Reiter, denen im letzten Jahr beim Schneeeinbruch nachts die Pferde davongelaufen sind. Wir haben euch bei der Suche geholfen. Richtig. Unsere Puma-Nacht. In der gesamten Cordillere haben wir von der Gendarmerie, die selbst Patrouille entlang der Grenze zu Chile reiten, Unterstützung bekommen. Heute ist die Frage umfassender. Wohin sollen wir? Im Moment nimmt uns niemand auf. Die beiden entwickeln einige Ideen, sind aber unsicher, was noch realisierbar ist. Sie beschließen, den Chef fragen. Weil es hier draußen kein Handysignal gibt, fahren sie zum nächsten Ort und bitten uns, zu warten – 20 Minuten. Nach einer Stunde kommen sie zurück. Die Botschaft: Reitet nach Loncopue. Dort könnt ihr die Pferde unterbringen und euch 14 Tage in Quarantäne begeben. Die Kollegen dort wissen Bescheid und nehmen euch in Empfang. Und dann? Aber das ist noch nicht dran. Ein Schritt nach dem anderen. Die gesamte Strecke ist für heute zu weit. Zunächst brauchen wir einen Übernachtungsplatz. Ein verlassenes Puesto gibt uns, was wir brauchen: Gras, Wasser, eine Feuerstelle mit Holz und sogar die geforderte Isolation.
Es liegen noch 50 Kilometer staubige Piste bis Loncopue vor uns. Trotz der ungewöhnlichen Situation und Eile entgehen mir die Flamingos an der kleinen Laguna nicht. Ein Gaucho sammelt Holz fürs Matefeuer und eine Schafherde streicht Futter suchend durchs Gelände. Ein Tag wie jeder andere auch. Nur in meinem Kopf herrscht Unruhe.
Wir liegen gut in der Zeit und sollten vor dem Dunkelwerden und der nächtlichen Ausgangssperre ab 20 Uhr im pueblo ankommen. Ein entgegen kommendes Polizeiauto hält an. Mit strengem Blick, Mundschutz und weißen Einmal – Handschuhen kommen drei Männer auf uns zu. Im Abstand von 2 Metern weisen sie uns an, ebenfalls Abstand zu halten. Fragen, Passkontrolle. Die Situation ist ernst und angespannt. Wir dürften nicht hier sein und uns nicht, ohne eine Sondergenehmigung auf der Straße bewegen. Das wissen wir. Wieder erklären wir unser Herkommen, die Monate in den Bergen und die Absprache mit der Gendarmerie am Vortrag und dass wir auf dem Weg in die Quarantäne sind. Reisende mit Pferden, wie wir, sind im Maßnahmeplan der offiziellen Stellen offenbar nicht vorgesehen. Eine weiterer Wagen hält an. Dunkelgrün mit weißem Schriftzug: Gendarmerie. Ich atme auf. Sie wissen Bescheid, hoffe ich. Eine Information von den Kollegen hatten sie jedoch nicht bekommen. Doch wir waren bekannt, vom Vorjahr. Ich schnappe einige Worte des Gendarms zu den Polizisten auf: reiten viele Jahre in Argentinien, El Bolson, Alumine …Die Atmosphäre entspannt sich, wird menschlicher. „Habt ihr noch Lebensmittel?“ Die Gesichter hellen sich auf. Es wird gescherzt. Es wird klar, dass wir, aus den Bergen kommend, offensichtlich keine Virenträger sein können. Trotzdem will man uns testen. Ein doctor soll das feststellen. Weil es kein Handysignal gibt, fährt das Polizeiauto nach Caviahue, um die Mediziner zu holen. Nach 40 Minuten kehrt es zurück. Eine Straßensperre wird errichtet. Bald darauf kommt ein Fahrzeug des hopitals. Arzt und Krankenschwester mit Mundschutz, Handschuhen, Schutzbrille und blauer Schutzkleidung befragen uns einzeln nach dem Befinden und messen Fieber. 35,8 – Entwarnung. Die umstehenden Uniformierten halten alles per Video fest. Zum Schluss werden Polizist, Gendarm, Roland und ich, Arzt und Krankenschwester in einer Reihe positioniert und mit strahlenden Gesichtern mehrfach fotografiert. Danach wird die Straßensperre eingepackt und alle fahren davon. Von behördlicher Seite als symptomfrei getestet und mit der Anweisung, schnellstmöglich nach Loncopue in die Quarantäne zu reiten, machen wir uns beruhigt auf den Weg. Fünf Reitstunden liegen vor uns.
Mit Schutzhandschuhen ausgerüstet warten wir auf die Ambulanz
Symptom- und Fieberfrei - amtlich festgestellt
In der Abenddämmerung, kurz vor dem Ortseingang bremst ein Polizeiauto scharf. „Halt! Den Ort dürft ihr nicht betreten!“ Die Kollegen kennen wir noch nicht. Aber … beginnen wir die ganze Geschichte zu erklären... Sie hatten keine Kenntnis von unserer Kontrolle. Ihre Aufgabe war, die allgemeine Ausgangssperre ab 20 Uhr durchzusetzen. Wohin sollen wir, wollen wir wissen? Das Reiseverbot außerhalb des Ortes verbietet uns das Unterwegssein und die Ausgangssperre das Eintreten in den Ort. Unser Fall war mit keiner Verordnung zu handhaben. Im Moment größter Ratlosigkeit hält ein zweites Auto: Gendarmerie. Hoffnung keimt in mir, heute noch irgendwo ankommen zu dürfen und einen Platz für die Pferde zu finden. Zuerst erfahren wir, dass die Gemeindeverwaltung keinen Platz für unsere Quarantäne hat. Auch die Frage, wo wir die Pferde lassen, war offen. Das war bedrückend. Die drei hatten heute einen harten Tag und einen Platz mit gutem Futter verdient. Leise spreche ich mein Mantra für ungewisse Situationen: Wir sind behütet! Das Unterwegssein der letzten fünf Jahre Reise hat mich vor allem eins gelehrt: Vertauen. Es wird eine Lösung geben.
Ich bin heute sehr erschöpft. Und das macht „das Fell“ sehr dünn. Vor Erleichterung und Rührung über so viel Hilfsbereitschaft und Herzendwärme rollen mir Tränen über die Wangen. Satt und frisch geduscht liege ich im Zelt neben der Pferdekoppel. Ich höre das Grasrupfen, Kauen und Schnauben unserer Pferde. Ein fast normaler Wanderreiter-Abend in Patagonien geht zu Ende.
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