So fühlt sich Freiheit an
Februar Wir haben es geschafft. Kurz nach 5 Uhr kocht das Kaffee- und Teewasser. Es ist finster, aber windstill. Auch Rolands Gesundheits-Sättigungs-Suppe ist fertig. Immer wieder staune ich, wie er Tag für Tag dieselbe Masse, meist mit Thunfisch, in sich hineinbringt. Essen ohne Kohlenhydrate ist hier eine echte Herausforderung. Langsam wird es hell, außer einigen Bergsteigern, die noch in der Dunkelheit den Zeltplatz zum Aufstieg auf den Lanin verlassen haben, herrscht schläfrige Stille. Trotz der Routine brauchen wir fast 3 Stunden. Essen, Pferde füttern, putzen und satteln, Zelt abbauen, Einpacken, Packtaschen befestigen... Acht Uhr starten wir bei blauem Himmel. Kein Lüftchen weht. Die Ebene ist schnell überwunden. Der einstündige, steile Aufstieg durch den abgebrannten Wald ist kräftezehrend. Es gibt keinen Weg und immer wieder erschweren kreuz und quer liegende Baumstämme das Weiterkommen. Der Ausstieg auf die Hochebene ist nicht zu finden. Roland sucht zu Fuß, während ich mir den Pferden inmitten dieses großem Baummikados warte. Es ist warm und windstill. Ich blicke zurück auf die Ebene, das winzige Guarda Park-Haus, die Gendarmerie, wo unsere Pferde ihre Koppel hatten, den Lago Tromen... Vor uns liegt der lange, aber flache Anstieg über ein Lavafeld, das nur sporadisch mit Grasbüscheln und wenigen bunten Blüten bewachsen ist. Die Vegetation wird immer spätlicher, Lavabrochen und Geröll knirschen unter den Hufen. Schon lange sind wir abgestiegen und führen die drei. Die Pferde laufen gut und willig mit. Sie kennen den Weg. Wir müssen weiter aufsteigen, um den zweiten großen Canyon zu überwinden. Dieser fällt so steil und tief ins Tal, dass nur ein falscher Schritt der letzte gewesen sein kann. Erst im letzten Drittel wird die Schlucht begehbar. Roland schaut immer wieder aufs GPS. Ehrlich gesagt, weiß ich auch grad nicht so genau, wo wir sind. Hat er das jetzt wirklich gesagt? Ich erinnerte mich: wir stiegen die steile Geröllflanke ab, querten ein Eisfeld auf dem Grunde des Canyons und kletterten die gegenüberliegende Flanke wieder hoch ... so war das. Und jetzt das Ganze doch nur umgedreht... Schlagartig bin ich wieder in der Gegenwart. Steinschläge vom Gletscherabbruch unterhalb des Gipfels dringen zu mir. Doch wo will Roland hin? Er ist weit entfernt und läuft schnurgerade auf eine der Abbruchkanten zu. Ich rufe. Was hat er vor? Er stürzt ab! Die Pferde ... Nichts kann ich in meinem Kopf mehr ordnen. Pure Angst. Er läuft und läuft, hört er mich nicht? Ich schreie, brülle tränenerstickt ... wir müssen weiter aufsteigen, und dort queren, wo die Schlucht flacher wird, bin ich überzeugt. Ich steige einige Meter bergauf und drehe mich um. Roland bleibt wie angewurzelt dort unten stehen. Verzweifelt drehe ich um und laufe Roland und diesem gähnenden Abgrund entgegen. Wir stehen auf einer schmalen Platte, die von tiefen Schluchten umgeben ist. Komm mit, hier ist der Weg, brüllt Roland zurück, und läuft weiter bergab. Er lässt sich nicht beirren und nähert sich immer weiter dem Abgrund.
Erkennst du nun, dass wir hierhergekommen sind, herrscht er mich ärgerlich an. Söckchen läuft die ganze Zeit seelenruhig hinter mir her, völlig unbeeindruckt von meinen Gefühlsausbrüchen. Zum Glück bleibe ich mit Panik allein. Dann erkenne ich die Felsen, den Abstieg - tatsächlich hier waren wir schon einmal. Beim Hinweg war alles anderes herum und wir hatten wir die Schlucht hinter uns und sind von ihr weg aufgestiegen und nicht auf sie zu abgestiegen - was für ein Unterschied! Puhhh... langsam beruhigen sich Puls und Atmung und ich kann diese wundervolle Bergwelt wieder genießen. Was ist mit mir passiert? Später verriet Roland, dass er auch Angst hatte - um mich. Er stand wohl kurz davor, mir eine zu kleben und mich auf dem Pferd festzuschnallen ... Wir haben die Spalten gut überwunden.
Vor uns liegt eine weite mit Vulkanasche gefüllte Ebene.
Wortlos genießen wir diesen Anblick und atmen tief ein. So fühlt sich Freiheit an. Über uns kreisen Kondore. Lautlos hören wir nur das Rauschen der ihrer Schwungfedern. Sie schweben so nah, dass wir den weißen Ring der Halsfedern der Männchen erkennen können. Minutenlang verharren wir so und bestaunen dieses Schauspiel. Wir fühlen uns eins mit allem was über und unter uns ist. Was für ein Frieden! Ich bin mit der Welt wieder versöhnt. Jetzt erst begreife ich, dass ich von dieser magischen Bergwelt unterhalb des riesigen Laningletschers überwältigt bin. Der heilige Berg. Das ist er. Auf dem steinigen Weg zum Pass tangieren wir manchmal unsere alten Spuren. Auch die Abdrücke eines einzelnen Reiters in unserer Richtung erkennen wir - Salvador auf dem Nachhause-Ritt. Ich staune. Nach fast zwei Monaten sehen unsere Spuren aus, als wären wir gestern durch die Vulkanasche geritten. Kein Wind hat sie zugeweht. Und keine sind hinzugekommen. Hier oben ist eine eigene Welt. Was sind schon zwei Monate, wie unwichtig hier die Zeit ist. Wir erreichen den Pass. Bevor wir unsere Aufmerksamkeit dem nächsten Tal schenken, steigen wir ab und nehmen Abschied vom Lanin. Wir spüren beide, dass wir einen ganz besonderen Platz auf dieser Erde verlassen. Wir führen unsere Pferde den steinigen
Geröllhang hinunter. Söckchen ist motiviert - er weiß, bald kommen saftige Mallines mit frischem Grün. Auf der gegenüber liegenden Talseite erkennen wir Rauschschwaden. Dank Kamerazoom machen wir drei große Feuer aus. Waldbrände sind bei dieser Trockenheit an der Tagesordnung. Acht Wochen schon hat es keinen Tropfen geregnet. Wir müssen uns keine Gedanken machen, das Feuer ist weit entfernt und beeinflusst uns nicht. Beim Abstieg durch die Vegetationszonen gelangen wir durch den dichten Coihue-, den Südbuchenwald. Ein Pfad ist nur schwer zu erkennen. Hier glänzt unser "instinktgesteuerte" Trueno. Während Roland "die Augen in die Hand" nimmt, um einen Pfad auszumachen, läuft Trueno zielstrebig weiter, als wüsste er, wohin es geht. Und er weiß es! Roland hängt die Zügel übers Satelhorn und übergibt dem "Trömmelchen" die Führung. Es ist erstaunlich, wie zielsicher er uns durch dieses Dickicht lotst. Im Tal folgen wir einem ausgetretenen Pfad. Plötzlich stecken lauter Gelbe Fähnchen an Büschen und Pfählen. Ach ja, der
Marathon am Lanin wir hatten davon gehört. Neben allerlei weggeworfenen oder verlorenen Schuhen, Schuheinlagen und Kleidungsstücken entdeckten wir ein Getränkedepot. Die Läufer waren wohl nicht so durstig, unzählige Plastikwasserflaschen türmten sich im Schatten eines Busches, der offensichtlich als Verpflegungsstützpunkt diente. Wir ziehen das Gletscherwasser aus dem Arojo vor und bedauern, dass keine Lebensmittel vergessen wurden. Rolands Abenteuerlust ist geweckt - die Fähnchen markieren den Weg zu einem Bergsteigerlager an der Lanin-Südflanke, außerdem müssen dort oben fruchtbare Mallines sein, vermutet er. Wir könnten doch... Nein. Ich protestiere. Ich möchte zurück ins Tal. Nach dem "Laninausflug" hätte ich gern mal etwas weniger Aufregendes. Es entbrennt eine heftige "Debatte"... Nur ungern lenkt Roland ein. Wir drehten in Richtung Tal. Auf einem recht guten Stück Gras bleiben wir. Wir bauen Zelt und Koppel im Tal auf und kochen, es ist noch zeitig am Nachmittag. Wir reden nicht viel. Jeder verarbeitet die Erlebnisse für sich. Noch lange schauen wir hoch zum Gipfel, bis der heilige Berg in der Nacht verschwindet.
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