top of page
Ar18_4568_So4873.JPG

Geschichten aus dem Wald





Geschichten aus dem Wald - Bäume erzählen
Den Bäumen lauschen


Aus "Abschied von Luzi - Erlebnisse im Wald" 2017 unveröffentlicht



Mit jedem Schritt, mit jedem Tag, den ich die Wege durch den Wald laufe, werde ich leerer und absichtsloser. Mein Erwarten und Verlangen und auch die Neugier auf dem Grund in mir etwas zu finden, verblassen. Das Laufen wird zum Wesentlichen. Und dabei öffne ich mich für meine Umgebung: den Wald mit seinen Geräuschen, Pflanzen und anderen Bewohnern, Kunstwerken und Symbolen.

Abends liege ich müde im Zelt und lausche. Jemand, wohl ein Reh, poltert neben mir über Steine – es wird mir doch nicht ins Zelt springen? Aus der Ferne dringen Fetzen aufgeregter Kinderstimmen zu mir, kreischende Mädchen, lautstarke Jungen … Ich muss lächeln und sehe mich als Kind: Nachtwanderung im Ferienlager. Das tschechische Bozi Dar ist nicht weit. Auch „mein Reh“ ist ganz still und lauscht dem ungewöhnlichen, nächtlichem Lärm. Plötzlich höre ich es in großen Sätzen davon springen. Entfernt schreit ein Käuzchen. Direkt am Zelt knabbert eine Maus. Zufrieden schlafe ich ein.

Ich werde sensibler für meine Träume. Manchmal wache ich auf, weil die Erlebnisse so intensiv sind. Mein kleines Heftchen und ein Stift liegen immer am Kopfende neben dem Schlafsack. Ich will keine der wichtigen Botschaften aus meinem Herzen verlieren.

Ich staune wie sich meine Sinne schärfen. Durch die Nase ziehen intensive Gerüche – Pilze, frischen Fichtennadeln, Erde. Nichts entgeht den Ohren, auch die Augen erfassen blitzschnell ungewöhnliche Formen, Farben oder Bewegungen im zwischen den Bäumen. Wenn es knackt, scannt sofort mein Augenpaar den Bereich. Manchmal offenbart sich ein Reh oder Eichhörnchen, manchmal ein Pilzsammler. Früher, als „wir“ noch im Wald lebten, war diese Aufmerksamkeit überlebenswichtig.

Einmal stoße ich abseits der Wege, auf einer sumpfigen Waldschneise auf einen Pilzsammler, einen Insider, der sich allein glaubt. Seine aufgerissenen Augen verraten, was er denkt. „Was machen Sie denn hier?“, fährt er mich ziemlich barsch an. „Wandern“, erwidere ich wahrheitsgemäß und bin überzeugt, dass er hier an seiner Pilzstelle noch nie einen Wanderer getroffen hat. „Ganz allein?“, verhört er mich weiter. Ich muss schmunzeln. Ja. Allein.

Ich fühle mich nicht allein. Ich fühle mich geborgen. Das englische „alone“ beschreibt diesen Zustand: all- one. Alles in einem. Ich bin Teil dessen, was mich umgibt. Und das kann ich fühlen. Ich atme die frische Waldluft ein, aus, ein, aus … das geht von allein, ohne Kopf, ohne Nachdenken. Dieses geniale System Körper sorgt für mich.

Auch das Laufen wird immer selbstverständlicher. Was sind schon 25 Kilometer …? Das Laufen bringt meine Füße wieder dorthin, wohin sie gehören: Auf den Boden. Der Kontakt zur Erde erdet. Laufen erdet. Je länger ich unterwegs bin, desto freier werde ich. Die Gedanken kreiseln nicht mehr. Ist mein Kopfkarussell zur Ruhe gekommen oder sind meine Gedanken nicht mehr darin eingesperrt? Unwichtig. Ich singe laut vor mich hin „Die Gedanken sind frei…“.

Und dann plötzlich nehme ich es wahr: Budum, budum, budum. Mein Herz, meinen Rhythmus. Jeder Schritt bringt mich weiter zu mir. Vollkommen präsent und lebendig. Erfüllt von einem Frieden, den ich in mir schon lange nicht mehr gespürt habe. Ich fühle mich sehr zu Hause, angekommen und geborgen. Mutter Theresa fällt mir ein: „Nötiger als Brot braucht der Mensch die Gewissheit, erwünscht zu sein.“ Das bin ich hier.

Loslassen ist Ankommen.

bottom of page