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Umkehr, bevor es los geht.

Argentinien, Ende Januar 2024

Nach drei herausfordernden Wochen mit deutscher Begleitung bin ich wieder allein unterwegs. Meine Pferde haben am Puesto von Don Morales gewartet, während ich im Pueblo war. Der alte Mann freut sich über eine compañera, die seine Einsamkeit belebt. Mich wundert, dass er seine nächste Nachbarin, meine Freundin Amelia noch nicht kennengelernt hat.


Doch lange hält es mich nicht bei dem warmherzigen Gaucho. Denn endlich will ich in mein neues Abenteuer starten. Ich ahnte nicht, dass ich schon mittendrin bin und das Erlebte ein wesentlicher Teil meiner neuen Heldenreise ist. Meine Sehnsucht, endlich mit "meinen" Bergen und Tälern in Kontakt zu kommen und sie pur spüren, ist riesengroß. Und außerdem möchte ich meine Mission erfüllen: Medikamente in meinen Packtaschen einem befreundeten Gaucho übergeben. Ich freue mich auf Nino. Im letzten Jahr hat er mir von Wegen "ganz oben" vorgeschwärmt, die wir gemeinsam reiten, wenn ich wiederkommen würde.


Als der Morgendunst den Blick ins Tal frei gibt, sattle ich Don Socke und Canela. Das Wenige ist gut in meinen Packtaschen verstaut. Nichts hängt heraus, das irgendwo hängenbleiben und die Taschen zerstören könnte. Mit einer tiefen Zufriedenheit im Herzen bedanke ich mich bei Don Morales für seine umsorgende Gastfreundschaft. Er bedauert mein zeitiges Gehen: "Das nächste Mal machen wir ein Asado und pass gut auf dich auf." Er schlürft den letzten Schluck Mate aus der Bombilla, umarmt mich herzlich und schwingt sich auf sein Pferd um den Zaun im Campo zu reparieren.





Eine halbe Stunde später öffne ich die Tranquera am Puesto von Amelia. Wie die meisten Gauchos lebt sie allein mit ihren Tieren. Frauen und vor allem Frauen, die allein in den Bergen leben, gibt es nicht so viele in der Gauchowelt. Wohl auch deshalb ist unsere Verbindung so intensiv. Unsere Begrüßung ist inniger als die üblichen Küsse auf die Wangen. Ich spüre Wärme, Vertrauen und gegenseitiges Verständnis. Amelia setzt den kleinen silberfarbenen Kessel auf die Propangasflamme, schneidet ein paar Scheiben vom frischgebackenen pan casero und stellt eine Dose mit pate, einer Leberwurstähnlichen, fad braungrauen Paste auf den Tisch. "Sirva si," bediene dich, fordert sich mich lächelnd auf. Sie weiß, dass ich immer mit großem Hunger bei ihr ankomme. Unter der Obhut ihrer tiefbraunen, gütigen Augen schmeckt einfach alles wunderbar.


Lange verweile ich nicht bei der Gaucha. Meine Sehnsucht und Freude nach unterwegs sein sind unendlich groß. Freiheit. Den Zeichen folgen. Das Leben atmen. Und die Abenteuer, die auf uns warten. Ich sammle Canela samt Soga ein und rufe den grasenden Don Socke. Vamos!


Gestärkt, winkend und mit hüfendem Herzen verlasse ich Amelia. Noch ein Stündchen Anstieg und dich werde eintauchen können in das weite, fruchtbare Tal des mäandrierenden Arrojo Buta Mallin.





Der Aufstieg ist bewältigt und ich blicke berührt auf die geduldete Wildheit des Flusses, der sich über die ganze Talbreite winden darf. Nichts wird melioriert, eingeengt oder gezähmt. Der Fluss darf ganz Fluss sein und seinen ungezügelten Weg fließen. Sofort ergreift mich dieses Bild - frei und wild und ungezähmt. Deswegen bin ich unterwegs.


Don Socke macht nicht mehr mit

Wir beginnen den Abstieg. Sanft im oberen Teil, dann steiler werdend. Loses Geröll schiebt sich unter unsere Hufe. Plötzlich bleibt Don Socke stehen. Was ist los? Über mein Mühen, ihn zum Weiterlaufen zu bewegen, berichte ich sehr gekürzt. Fragen, bitten, warten, treiben, ziehen, warten, nachdrücklicher bitten, Energie erhöhen... Nichts. Don Socke bewegt sich keinen Schritt weiter. Ich werde still. Blicke ins Tal. Dort unten wächst unendlich viel Futter. Hier oben reicht es nicht mal für eine Übernachtung. Die spärlichen Halme sind genug für frei umherziehende Pferde, die den ganzen Tag nichts anderes tun, als von Halm zu Halm zu laufen. Nicht aber für meine beiden, die Gepäck tragen und nur punktuell Fresspausen haben. Sie brauchen über Nacht gutes Futter.


Nach meiner Denkpause wiederhole ich die Prozedur: fragen, bitten, treiben, ziehen ... Nichts. Socke steht wie einbetoniert. "Socke, schau dir das Futter dort unten an! Das ist unser Ziel für heute - 5 Kilometer noch. " Nichts. Don Sockes Blicke kleben an der entgegensetzten Richtung. Talaufwärts. Ich grüble, denn er kennt den Weg gut, ins saftige Tal zu unendlichen Weidegründen. Socke bleibt dabei. Er steigt keinen Meter weiter ab ins Tal. Meine Vermutung, dass der unglückliche Hufbeschlag Ursache sein kann, verfestigt sich und wird zur Gewissheit. Don Socke hat Schmerzen. Schließlich und alternativlos folge ich seinem Vorschlag. Wir kehren um. Am Puesto werde ich ihm die Eisen abnehmen und Don Morales bitten, neu zu beschlagen. Socke schnappt meine Gedanken auf und setzt sich endlich in Bewegung. Bergaufwärts. Zurück. Gut. Ich vertraue ihm und folge. Dabei grummelt sich ein alter Ärger ins Bewusstsein: Warum kann ich nicht selbst beschlagen? Als ich bei der Prozedur des Hufbeschlags zuschaute, fühlte ich mich schlecht, weil ich wusste, dass Socke nicht gut beschlagen wird. Ich hatte nach Alternativen gesucht, versucht einen Fachmann aus dem Kreis von Daniel Anz zu finden - aber alle waren so weit entfernt oder haben sich nicht gemeldet. Rückblickend wurde mir bewusst, dass mein reibender Schuh, meine riesige Blase, die mir 14 Tage lang Schmerzen bereitete, ein Abbild von Sockes Pein war. Ich zerschnitt meinen Wanderschuh, um die Schmerzen zu lindern. Und später konnte ich noch eine Schicht tiefer denken. Die Schmerzen waren Abbild der gesamten Situation. So, wie mein Fuß und Sockes Huf nicht ausreichend Raum hatten, so versagte ich dabei, meinen eigenen energetischen Raum, meine Grenzen zu bewahren bzw. wiederherzustellen. Aber das ist eine andere Geschichte. Eine sehr lehrreiche, die ich erzähle, wenn ich sie verdaut habe.


"Nanu, das war ein kurzer Ausflug," wundert sich Don Morales als er am Abend zum Puesto zurück kommt und mich sieht. Ich berichte und er inspiziert die Hufe. Endlich mal einer, der was davon versteht, denke ich. Wir werden uns einig, dass Socke mindestens eine, besser zwei Wochen Pause braucht. Irgendetwas in mir ahnt, dass noch mehr Zeit vergehen wird. "Bleib hier, ich freue mich über deine Gesellschaft. Lass uns Mate trinken. " Don Morales Einladung tröstet mich.


Stille zum Nachspüren

Nach einigen entspannten Tagen muss ich das Puesto jedoch aus verschiedenen Gründen verlassen. Das beunruhigt mich, denn weit kann ich mit Socke nicht laufen. Don Morales beruhigt mich. Ganz in der Nähe gäbe es eine fruchtbare Mallin. "Das Futter reicht mindestens eine Woche," verspricht er.


Ich ziehe um. Die Koppel und mein Zeltplatz entstehen an einem Platz, der großartiger nicht sein könnte. Hier mit dem Blick auf meine zufrieden grasenden Pferde und unter dem Einfluss der magischen Steine kommen meine Gedanken langsam zur Ruhe. Die Ereignisse der letzten Wochen haben mein System sehr stark beschäftigt. Ich nähere mich der Frage: Warum bin ich so aus meiner Mitte gefallen? Ich beschließe, es meinem Dichterfreund Rilke gleichzutun und ohne Eile in die Antworten hinein zu leben.


"Habe Geduld gegen alles Ungelöste in deinem Herzen

und versuche, die Fragen selbst liebzuhaben,

wie verschlossene Stuben und wie Bücher,

die in einer sehr fremden Sprache geschrieben sind.


Forsche jetzt nicht nach den Antworten,

die dir nicht gegeben werden können,

weil du sie nicht leben kannst.

Und es geht darum, alles zu leben.


Lebe jetzt die Fragen!

Vielleicht lebst du dann allmählich,

ohne es zu merken, in die Antwort hinein."


Rainer Maria Rilke

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