Söckchen ist verletzt, wir sitzen fest und argentinische Lösungen
Der zarte Regen der Nacht hat sich verzogen. Geblieben ist Wind. In Deutschland würde man Sturm sagen. Er peitscht die langen Pappeln. Ein loses Teil des Wellblechdaches vom Galpon scheppert im Takt. Während des Frühstücks galoppieren die Pferde, angeführt von Trueno, der offenbar vom Sturm wurde, den Berg durch Puesto hinunter. Dort beruhigen sie sich gleich wieder und grasen weiter. Beim Satteln fällt Roland eine Verletzung an Söckchens linker Fessel auf. Ich spüle das Blut mit Wasser ab. Fell und Haut sind oberflächlich ein wenig aufgeschürft, nichts dramatisches. Zum Glück! Ich sattle fertig. Dann wollen wir los. Söckchen weigert sich. Er will hier bleiben denke ich, und ziehe stärker am Halfter. Ach du je, er lahmt! Ich schaue das Bein genauer an. Oberhalb Ich der Fessel ist das Bein geschwollen. Ich versuche ihn noch ein Stück weiter zu bewegen – kein Erfolg. Er hat Schmerzen. Absatteln. Roland ist mit Jefe und Trueno zurück am Puesto und sattelt ebenfalls ab. Wir können nicht weiter... Ich beobachte Söckchen. Er frisst und bewegt sich Schritt für Schritt. Abwechseln tasten Roland und ich Röhrbein, Fessel, Sehen und Huf ab, um eventuell irgendein Anhaltspunkt zu finden. Tausend Gedanken rasen durch den Kopf … Selbst wenn es einen Tierarzt gibt, kann der wenig tun. Ein mobiles Röntgengerät hat hier keiner. Tierkliniken gibt es nicht...Hier heilt die Zeit oder eben nicht. Ist meine Reise zu Ende? Alles Spekulationen, die nicht weiter bringen. Ich widme mich der Realität: Zelt aufbauen, Roland baut die Koppel. Die Sehnen sind offenbar in Ordnung. Ich kann nichts ungewöhnliches fühlen. Im Stand belastet Söckchen das Bein. Die Bänder im Fesselgelenk sind schwammig. Ein Blutgefäß zwischen der oberflächlichen und tiefen Beugesehne tritt als dicke Beule hervor. Ob das Unterstützungsband gerissen ist, schießt es mir durch den Kopf??? Ich kühle das Bein. Das scheint gut zu tun. Söckchen bleibt still stehen und lässt sich das Übergießen mit kaltem Wasser immer wieder gut gefallen. Ich ergebe mich dem Schicksal und versuche mein Gedankenkarussell anzuhalten. Das einzige was bleibt, ist Warten. Nachdem sich der erste Schreck gelegt hat, suche ich die „Rennbahn“ der Pferde von heute Morgen nach Ursachen für die Verletzung ab. Tatsächlich entdecke ich im Gras zwei schwarze, hufgroße Löcher. Ich schaue genauer. Die Abdeckung einer alten Grube mit Betonplatten ist völlig zugewachsen. Der Beton darunter ist marode. Uns hat er ohne weiteres getragen, denn ich bin zum Wasserholen mehrmals darüber gelaufen. Doch der Kraft galoppierender Pferde hat er nicht mehr Stand gehalten. Zwei Hufe sind eingebrochen. Wahrscheinlich Söckchen. Wie nun aber die Verletzung zustande kam, können wir nur mutmaßen. Wir diskutieren tausend Varianten hin und Nein. Hätte ich das sehen müssen, hätte ich den Unfall verhindern können? Ich mache mir Vorwürfe. Ich bin x-mal über diese Fläche gelaufen – es war nichts zu ahnen. Gut. Ich spreche mich frei und versuche den Abend mit der einmaligen Aussicht ins Tal zu genießen. Und trinke Mate. Warten. Das lerne ich in Argentinien gut. Warten und akzeptieren, dass ich mit meinen Mitteln im Moment nicht mehr tun kann. Nein, eigentlich ist es kein Problem, länger hier zu bleiben. Für unsere drei wächst hier ausreichend Futter. Beim Aufstieg durch das trockene Hügelland mit Calafatesträuchern hätte ich nicht daran geglaubt, ein so fruchtbares Fleckchen hier vorzufinden. Glück im Unglück. Außer den beiden Bullen, die wir Georg und Herbert nennen, leben hier keine Tiere, so dass genügend Gras wächst, eine Zeit lang zu bleiben. Lediglich unsere Lebensmittel werden wieder einmal knapp... Plötzlich nehme ich ein Motorengeräusch wahr. Ein Schreck. Wir sind, trotz marodem Zaun, illegal auf diesem Puesto. Wer kommt jetzt? Roland schaut genauso überrascht:“ Jetzt geht’s los.“ Wir laufen zum Tor und öffnen dem Auto. Der dicke, ältere Mann am Steuer mit sehr lustigen Augen hört sich Rolands Erklärung an. Nein, er hat mit uns kein Problem. Wir erfahren, dass er in der nächsten Zeit mit einigen Arbeitern den maroden Zaun der Estancia Lago Bueno erneuern wird. Eine zweite Camionetta kommt kurze Zeit später, drei weitere Männer steigen aus und leeren die Ladefläche. Bettgestelle, Maratzen, Kanister, Säcke und ein Gageschrank fürs Fleisch werden abgeladen. Fleisch – Rolands Augen leuchten. Er wittert eine Chance, seine Versorgungssituation aufzubessern. Doch vorerst schauen wir dem Treiben der Ankömmlinge zu. Zwei Männer beginnen mit einem Blech die erste Schicht alten Pferdemistes aus dem Galpon zu schaffen. Danach wird er bezogen. Wirklich, die Männer bringen zwei Bettgestelle und Matratzen in die Bretterbude, die vorher Herberge für Pferde war. Wollen die beiden wirklich dort schlafen? Nun beginnen sie den Bretterschuppen wetterdicht zu machen. Die fehlende Hälfe der Seitenwand, wir haben die Grube mit der herumliegenden Platte abgedeckt, wird mit Folie verhängt und zugenagelt. Zum sicheren Befestigen der Folie wird ein Brett benötigt. Fix ist eine Sprosse der Leiter demontiert und aufgenagelt. Die scheppernden Wellblechplatten auf dem Dach werden mit einem fetten Ast einer Pappel auf dem Dach fixiert. Zum Glück wurde der Leiter nur eine Sprosse geraubt. Das ist die argentinische Lösung: hält erst einmal. So funktioniert hier alles. Wir haben einige solcher Beispiele getroffen und uns amüsiert: Ein Windschutz fürs Lagerfeuer fehlt? Kein Problem. Ein Wellblechelement vom Dach der Hütte wird abgebaut und umfunktioniert. Sollte es regnen und gleichzeitig Feuer gemacht werden … wie sieht dann wohl die Lösung aus? Ganz pragmatisch werden kurzfristig Prioritäten gesetzt. Wird eine Sitzgelegenheit dringender benötigt, als die Wand einer Hüte, werden kurzerhand die Bretter der Wand zur Sitzfläche einer Bank. Die Dachreparatur freut uns. Nun hat das Scheppern in der Nacht bei Wind ein Ende. Aus dem Schornstein am Haus steigt Rauch auf. Als der Gageschrank voller Fleisch hundesicher an eine der Pappeln gehängt wird, besuchen wir unsere neuen Nachbarn. Nach einigen Runden Mate und Fragen nach dem Woher und Wohin kehren wir mit Fleisch, Grassa und Mehl und der Aussage, dass wir morgen zum Einkaufen mit nach Esquel in den großen Supermarkt Anonima fahren können, zu unserem Feuer zurück. Was für ein Fest! Sofort verbrauchen wir unseren gesamten Zwiebelvorrat von 2 Stück zum Abendessen. Söckchens lahmen bergab im Schritt ist nicht mehr zu sehen. Bergauf hat er noch Probleme. Die Schwellung ist unverändert. Mit der Aussicht auf Lebensmittel ist der Gedanke, eine zeitlang hier zu bleiben recht angenehm. Wir machen Urlaub.
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